Avram Kantor: Die erste Stimme
„Ich hatte das Gefühl, dass Kobi sich zu einem Bündnis mit jemanden hatte verführen lassen, der größer und stärker war als er, der etwas wollte, was Papa und Mama nicht wollten, und ich hatte Angst, dass er jetzt versuche würde, mich auf seine Seite zu ziehen.“
So denkt der etwa 10-jährige Hauptheld und Erzähler des Buches „Die erste Stimme“ über seinen 14-jährigen Bruder Kobi. Ungleicher als die beiden Brüder es sind, kann man sich Geschwister kaum vorstellen. Kobi ist der Große und Gescheite, der anders als sein Vater die Armee ablehnt und nach dem Glauben sucht – seinen kleinen Bruder halten alle für autistisch und zurückgeblieben, denn er kann nicht sprechen. Sein Bruder und die Erwachsenen verhalten sich darum meist auch so als könne er nicht hören, sehen und denken. Doch das alles tut der Junge. Darum ist er der erste, dem die Veränderungen mit Kobi Angst machen. Auch die Eltern versuchen, Kobi davon abzuhalten, sich den „Frommen“ anzuschließen, aber sie wissen auch, dass jedes Verbot Kobi nur noch mehr in ihre Arme treiben wird. Ohnmächtig sehen sie, wie sich ihr Sohn, mehr und mehr der Sekte anschließt.
Kobis Bruder ficht daneben seinen eigenen Kampf mit Gott aus. Warum hat Gott ihm die Stimme verwehrt? Soll er wie Kobi darauf hoffen, dass der Tag kommt, an dem Gott ihn heilen wird? Was wird geschehen, wenn er Gott herausfordert, diesen Tag unverzüglich kommen zu lassen? Und die wichtigste Frage von allen: Warum vertraut Kobi der Sekte in dieser Frage anstatt den Eltern oder Ärzten?
Auch als der Erzähler merkt, dass Gott kein Wunder geschehen lässt, gibt er nicht auf. Vielmehr sieht er sich darin bestärkt, seinen Bruder wieder in die Familie zurück zu holen. Was keiner in der Familie ahnt: Der Kleine hat ein unglaubliches Geheimnis, das tatsächlich die Kraft haben wird, seinen großen Bruder zu retten.
Wie schon in „Nennt mich nicht Ismael“ scheint der Hanser-Verlag ein besonderes Gespür für jene Bücher zu haben, in denen Kinder- und Jugendliche etwas von der Macht der Sprache erleben können. „Die erste Stimme“ ist jene Stimme der Gedanken, die sich im scheinbar zurückgebliebenen Erzähler ausbreiten und die stärker ist als jede andere Stimme, mit der Menschen für gewöhnlich miteinander kommunizieren. Die erste Stimme verleiht dem Heranwachsenden die Kraft, an sich zu glauben und wider eine organisierte Macht aufzustehen.
„Die erste Stimme“ wurde von niemand geringerem als Mirijam Pressler übersetzt, deren Kinderbücher immer wieder zu den wichtigsten Werken der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur gezählt werden.