Jana Simon: Unter Druck – Wie Deutschland sich verändert
Wie Deutschland sich verändert ist ein aktuelles Thema, dem sich Jana Simon mit scharfem Verstand, Ehrlichkeit, aber auch Herz, gewidmet hat. Durch Interviews mit unterschiedlichen Menschen verschiedener Berufe und verschiedenen Schicksalen hat sie das Geschehen analysiert und sachlich dargestellt. So die Lebensläufe folgender 7 Personen: die eingereiste Polin Bozena Block, der populäre und nicht unumstrittene Alexander Gauland, der Polizist Thomas Matzak, das Ehepaar Jörn und Katrin Reichenbach, der etablierte Jörg Asmussen und die Influenzerin Lisa Banholzer.
Als ältere Person in der Gesellschaft sehe ich das Leben der Influenzerin als eher problematisch an. Große Schwindeleien und Oberflächlichkeit der Bloggerin waren mir bis dato noch kein Begriff. Es ist wohl schwer einen erfolgreichen Lebensweg auf diese Weise einzuschlagen und die Schwierigkeiten des Lebens zu meistern.
Bozena Block ist eine eingereiste Polin, die ’89 z. Zt. der Wende mit ihrem Mann nach Deutschland kam. Erleichtert wurde ihr vieles aufgrund ihres deutschen Großvaters und ihres Berufs als Krankenschwester. Pflichtbewusst und ehrgeizig arbeitete sie sich durch die verschiedensten Einrichtungen des deutschen Gesundheitswesens und Pflegedienstes. Sie musste zahlreiche Enttäuschungen hinnehmen, aber sie war eine engagierte und starke Person und überstand viele Missgeschicke, wie den Tod ihres Ehegattens, Scheidung, Arbeitslosigkeit und Tod eines Kindes. Sie entwickelte sich alleine weiter mit zwei Kindern, ging ihren Weg und sieht sich noch heute einem ganz großen Druck ausgesetzt.
Das Schicksal des Polizisten Thomas Matzak ist in meinen Augen sehr dramatisch. Als Sicherheitsbeamter wird er verstrickt in das Fehlverhalten des Staates bei der Bekämpfung der NSU-Gruppe, beispielsweise der beiden Ermordeten Böhnhard und Mundlos.
Einfühlsam beschreibt die Autorin den Werdegang als Polizist mit Beginn noch in der DDR. Er ist ein gewissenhafter Beamter bis hin zum Vorgang der NSU. Durch die Arbeit von Beamten entstehen Pannen in der Aufarbeitung des Falles. Matzak hat das Gefühl der Mitschuld. Diese verlässt Matzak kurzzeitig, kommt aber bei nächsten Gelegenheiten wieder hoch. Er erlebt das Tschäpe-Urteil nach Jahren. Dann arbeitet er als Drogenfahnder und schließlich muss er sich mit dem islamistischen Terror auseinandersetzen. Er sieht sich nun als „Streiter in der Frontlinie des neuen gesellschaftlichen Konfliktes“, so die Autorin.
Alexander Gauland stieg in der CDU auf bis zum Staatssekretär. Dort arbeitete er mit Bernd Lucke, Conrad Adam und später Herrmann Gröhe. Er fühlt sich in der CDU nicht mehr wohl, vermutlich auch weil er gedemütigt wurde. Zum April 2013 wird er Beisitzer und stellvertretender Spitzenkandidat der AfD in Brandenburg. Gleichzeitig beginnt der NSU-Prozess. Neue Probleme treten in dem Staat hervor: die Flüchtlinge. Jetzt fragt sich jeder, wer überhaupt Deutscher werden kann.Es kann ja nicht nur der sein, der den Pass erhält! So lauten die neuen Parolen der AfD. Aber Gauland merkt schnell, wie er die Menge ansprechen muss. Er wirkt wie ein solider, seriöser, älterer Herr und redet wie ein Januskopf. Er taktiert mit Meinungen und äußert sich oft gegensätzlich in den nächsten zwei Sätzen. Ihm fehlt jegliches Gefühl im Umgang mit Minderheiten. Er ist ein Populist und vertritt keinen eindeutigen Standpunkt. Da fragt man sich doch, wie ein solcher Politiker für das Volk glaubhaft sein kann. Oder ist es seine glänzende Redebegabung? Können die Menschen ihm nicht richtig zuhören und ihn deuten?
Gauland ist machtbesessen und verhält sich so in allen pressewirksamen Auftritten. Seine Verlogenheit fällt den Menschen nicht auf, weil er so bieder wirkt. Seine Attacke mit seiner parteivernichtenden Freundin Petri verläuft fast belanglos in der Senke. Man kann bei der Autorin zahlreiche Äußerungen Gaulands lesen, die sich nach einem gewissem Zeitraum in Luft auflösen. Was ist an diesem scheinheiligen Mann anerkennungswürdig?
Das Ehepaar Jörn und Katrin Reichenbach ist eine Durchschnittsfamilie des deutschen Mittelstandes – gut situiert, gut ausgebildet, gut verdienend. Mit Sorgen zur Besitzerhaltung und zur Krankheitsbekämpfung, die durch eigene Überforderung (oder die der Gesellschaft?) verschuldet sind. Über dem ganzen Verlauf liegt ein wenig Spießbürgertum.
Jörg Asmussen ist ein hochangebundener und etablierter Politiker, zum Teil bei der EZB angestellt. Er unterliegt den Forderungen dieser Gesellschaftsschicht und muss sich allen Begebenheiten unterordnen.
Sieben Personen wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Das bietet die Chance, dass der Leser mit Vertretern einer/mehrerer Schicht(en) konfrontiert wird, zu der er von sich aus keinen Zugang hätte. Gerade das macht Jana Simons Buch wichtig und spannend. Der Leser überlegt automatisch, wen er für Interviews ausgewählt hätte und wie diese ausgefallen wären, wenn er über Jana Simons Geduld und Fragetechniken verfügt hätte.