Salman Rushdie: Harun und das Meer der Geschichten
1988 geriet der indisch-britische Schriftsteller Salman Rushdie mit seinem Roman „Satanischen Verse“ in aller Munde. Obwohl der Roman sich durch das Todesurteil, das der Islam über Rushdie verhängte, exzellent verkaufte, werden nur wenige Deutsche ihn mit Genuss gelesen haben. Inzwischen hat sich die Aufregung um Rushdie gelegt, obwohl das 1990 von ihm erschienene „Harun und das Meer der Geschichten“ es verdient hätte, zum Weltbestseller zu werden. Leider ist es wie so oft: Was im Gewand eines Märchens daher kommt, darf nicht unbedingt hoffen, ins mediale Elysium aufgenommen zu werden.
Dreh- und Angelpunkt des Romans ist die unglaubliche Liebe zu Geschichten. Der orientalische Märchenerzähler Rashid verliert die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, nachdem er von seiner Frau verlassen wird. Sein Sohn Harun macht sich auf zum Meer der Geschichten, um zu erfahren, warum Geschichten wertvoll sind, auch wenn sie nicht wahr sind und den Geschichtenstrom seines Vaters wieder zu beleben. Doch kaum ist er dort angekommen, muss er feststellen, wie die bösen Mächte versuchen, die ältesten Geschichtsströme versiegen zu lassen und das Meer der Geschichten durch belanglose Erzähltypen zu verunreinigen. Harun findet merkwürdige Freunde und gerät in eine noch merkwürdigere Prinzessinnen-Befreiungsgeschichte bevor er seinem Vater einen neuen Erzählstrom zuführen kann.
„Harun und das Meer der Geschichten“ ist eine Parabel, die Rushdie auf der Flucht für seinen Sohn geschrieben hat. Es ist vielleicht sein persönlichstes Buch, ohne dass es bedrückend wirkt. Es nährt sich aus der überbordenden Fantasie der orientalischen Märchen ebenso wie aus der grotesken Komik moderner Medien. Rushdie gelingt auf jeder Seite ein unglaublicher Balanceakt zwischen Klischee und Kreativität. „Harun und das Meer der Geschichten“ könnte so etwas wie die Bibel jeden Autors werden.