Valèrie Dayre: Lilis Leben eben
Die 12jährige Lili fährt mit ihren gut bürgerlichen Eltern in die Sommerferien ans Meer. Das ist fast schon der ganze Konsens, den man objektiv über das großartige Buch „Lilis Leben eben“ von Valèrie Dayre (geb. 1958) formulieren kann. Die in Deutschland noch unbekannte Autorin erzählt die Geschichte von Lili nämlich nach einer poetischen Konzeption, in der nichts fest steht, außer dass das Erwachsen-werden gar nicht so leicht ist.
Das Buch beginnt mit der traditionellen Wiedergabe der Autobahnfahrt zu Ferienbeginn und den üblichen Katastrophen, die sich im Familien-Vehikel dabei abspielen. Dann aber setzt Lilis Tagebuch ein. Ihre Eltern haben sie ausgesetzt wie Hänsel und Gretel. Oder wie eine Familie einen großen schwarzen Hund, der merkwürdigerweise sprechen kann. Die beiden verbringen die drei Wochen harrend und hoffend an der Raststätte. Trotzdem nimmt die Geschichte natürlich am Badestrand des Urlaubsortes ihren Verlauf. Sprechende Hunde gibt es dort ebenso wenig wie ausgesetzte Kinder gutbürgerlicher Familien. Lili erfindet ganz andere Ferien und lässt ihre „Fantasie mit der undefinierbaren Traurigkeit (spielen), die sie manchmal erfüllt.“ Ihre Eltern fühlen sich natürlich brüskiert als sie das erfundene Tagebuch lesen. Und Lili fühlt sich verraten.
„Lilis Leben eben“ findet genau den richtigen Ton für die Probleme Heranwachsender und ruft den erwachsenen Lesern das Gefühl der inneren Zerrissenheit, des Haderns mit den Idealen und Zielen der Erwachsenen in Erinnerung. „Lilis Leben eben“ erzählt aber auch vorsichtig von den nicht leichten Anfängen einer Schreibenden. Dass Lili ihre anklagende, erfundene Geschichte am Ende nicht wegwirft, gehört zu den unscheinbaren aber schweren Wundern des ganzen Textes.
„Lilis Leben eben“ ist soeben bei Carlsen erschienen und ein Leckerbissen für poetisch experimentierfreudige Leser.